OstBlog
Oft sitzt der Papa da und schaut deppert
Ein Nachmittag im späten August. In einem Garten im österreichischen Osten. Dort, wo die Alpen nach einem letzten Aufächzen auf zweitausend Meter abrupt Halt machen und jäh versinken in träge dahinschaukelnden Hügeln, bevor sie schließlich in der ungarischen Tiefebene ganz verschwinden. In diesem Zwischenland zwischen Hochgebirge und Puszta läuft der Sommer im frühen August zu seiner Höchstform auf. Die Luft wird schwer und zäh wie Kleister, die Sonne so dröhnend, dass man an manchen Tagen vergisst, wie man heißt. Nichts regt sich. Kein Blatt tanzt, selbst die Zeit rinnt nur sehr lustlos dahin.
An solchen Tagen suche ich im elterlichen Garten den Schatten unterm Nussbaum. Dieser Nussbaum war schon immer da, solange ich mich erinnern kann. Er hat mich einmal als Kind, beim wilden Schaukeln aus der Hängematte auf die harte Erde katapultiert, aus der damals ein bloß schütterer, frischgesäter Rasen gewachsen war. Ein Ereignis, das noch eine Woche später in Form einer stolzen Schürfwunde am Kinn zu sehen war. Im Herbst hat er Nüsse abgeworfen, noch in dieser grünen, glatten Schale, die sich hervorragend dafür eigneten, sie in Piraten- oder Ritterkämpfen mit den Nachbarskindern über den Zaun, die Reling oder die Burgmauer zu schleudern bis es Tränen gab und sich einer entschuldigen musste.
Ich suche und finde also Schatten unter dem Nussbaum. Mit einem Fetznheftl aus der Trafik in der einen und einem Sommerspritzer in der anderen Hand lasse ich mich nieder. Liege da und warte darauf, dass die heiße Luft meine Muskeln lähmt. Grashalme kitzeln in meinen Kniekehlen. Alles flirrt und summt um mich herum. Schwer vorstellbar, dass es Schöneres gibt auf der Welt.
Dann kommt der Papa.
Barfuß und mit einer Lässigkeit die Menschen, die die obersten Hemdsknöpfe offen lassen nun einmal eigen ist, streift er durch den Klee. Die von der Sonne ausgetrockneten Stellen des Rasens knistern unter seinen Füßen. Er lässt sich auf einem Gartenstuhl neben mir nieder, zwinkert mir zu, lässt den Blick schweifen. In den Himmel, über die mächtige Krone des Nussbaumes, die Büsche am anderen Ende des Gartens.
Mehr kommt nicht.
Er sitzt. Und schaut.
In den nächsten zwanzig Minuten ändert sich daran nichts Grundlegendes. Die spektakulärsten Ereignisse der nächsten zwanzig Minuten sind folgende: Nach drei Minuten schlägt der Papa das rechte Bein über das linke. Nach sieben Minuten wiederum das linke über das rechte. Nach zwölf Minuten huscht der Nachbarskater durch unseren Garten, was der Papa mit einem kurzen Ah! und Tsts! zur Kenntnis nimmt. Nach vierzehn Minuten stößt er einen grundzufriedenen Seufzer aus.
In der Zeit dazwischen passiert absolut gar nichts.
Es macht mich nervös.
In einer Zeit in der Leute die sich in der U-Bahn mit einem kleinen Knopf in ihrem Ohr unterhalten von den Grenzen der sozialen Akzeptanz nicht nur eben grade noch eingeschlossen werden, sondern vielmehr fest und unumstößlich in deren Zentrum stehen sind Leute, die das nicht tun fast schon verdächtig. Erschreckenderweise sogar der eigene Vater. Wieso macht er denn nichts? Wieso liest er nicht was? Zum Beispiel? Oder schneidet sich die Fingernägel? Wenn er wenigstens noch Raucher wäre. Dann würde er jetzt hier sitzen und zumindest eine rauchen. Aber so? Nichts tut er jetzt außer sich demonstrativ zurücklehnen.
Es ist unerträglich.
Irgendwann kommt das Pfeifen. Wobei pfeifen schwer übertrieben ist. Es ist kein aktives Pfeifen, nicht jenes, bei dem man ihn mit einem triumphierenden Ah jetzt pfeift er! hätte festnageln können, nein, es ist eigentlich nicht mehr als ein kräftigeres Atmen durch gespitzte Lippen. Man hört es kaum und dennoch brennt es in meinen Hinterkopf auf niedriger aber ausdauernder Flamme. Ich schließe meine Augen und massiere meine Schläfe.
Dieses Dahin-Pusten zwischen Fisch und Fleisch ist zu viel für meine Entspanntheit. Und das kommt ausgerechnet von dem Mann, der einst versucht hat, mich in die Pfeiferei einzuführen. Damals, auf der langen Zugfahrt nach Rom, auf der ich viel Zeit hatte zu üben. Bis mir schwindlig wurde. Mir und all den anderen Fahrgästen in unserem kleinen Abteil.
„Was schaust?“, frage ich irgendwann. …denn so deppert?, denke ich heimlich dazu.
Die Antwort kenne ich schon, doch ist die Frage ein verzweifelter Versuch, dem Papa eine ähnliche Belästigung zu sein, wie ich sie selbst durch seine aufdringliche Gelassenheit verspüre, in der Hoffnung, er würde sich sodann einen anderen Platz zum Sitzen und Schauen suchen. Der Plan geht nicht auf.
„Nix. Ich schau nur.“
Ich schau nur. Ein Satz, den man sich in der Regel für übermotivierte Verkäufer in Kleidungsgeschäften aufspart, wenn man ihnen höflich zu verstehen geben möchte, dass man nichts zu stehlen, aber eben auch nichts zu kaufen gedenkt und daher die angebotene Hilfe bei der Auswahl und die Auskunft über neue Schnitte, verschwendete Zeit für alle Beteiligten bedeutet.
Unterm Nussbaum heißt der Satz etwas anderes. Aber das lässt sich schwer übersetzen für jemanden, dessen Generation diesbezüglich, so scheint es, eine andere Sprache spricht. Eine Generation, die von gar nicht wenigen Menschen, auch den intelligenten, in langen Artikeln in den Wochenendausgaben der Quadratmeterblätter zu analysieren versucht wird, mit der immer gleichen Conclusio. Ein trauriger Haufen orientierungsloser Individualisten und Karriereschweinen, seien die jungen Menschen von heute. Hätten weder Ideale noch Idole, ließen sich Wochenende für Wochenende in hippen Clubs von eintöniger Musik sämtliche Synapsen aus dem Gehirn stampfen und frönten ohne jegliche Leidenschaft dem Drogenkonsum. Der narzisstische Wurmfortsatz des 21. Jahrhunderts. Eine Generation die, und das ist vielleicht das Wesentliche, das Sitzen und Schauen verlernt hat.
Irgendwann verliert der Papa dann die Lust am Pfeifen und ich fast den Verstand.
„Groß ist er geworden der Nussbaum“, sage ich als würde ich über einen entfernten Neffen sprechen, den man nur sieht, wenn es etwas Rundes zu feiern gibt.
Die Offensichtlichkeit der Feststellung ist so lächerlich wie passend. Für eine Weile sitzen wir dann beide so da und schauen deppert. Bald gibt’s Abendessen.